Geschichte

Joei-ji Sesshu-tei-Garten – Ein begehbares Kunstwerk

Joei-ji Sesshu-tei-Garten – Ein begehbares Kunstwerk

Ich stehe nur auf dem Parkplatz außerhalb von Joei-ji und dennoch wirkt der Tempelkomplex majestätisch – ein starker Kontrast zu den Farben, organischen Formen und Kurven der umgebenden Naturlandschaft. Mit der Stadt Yamaguchi hinter mir habe ich das Gefühl, auf ein Waldabenteuer in den Bergen zu gehen und der Tempel selbst fungiert als Zutritt zu dem dahinter liegenden Grün.

Der Zen-Steingarten am Tempel-Eingang ist ein schöner Anfang.

Die Haupthalle dient als Eingang zu Sesshus Kreation.

Der Garten passt sich leicht und würdevoll an den Jahreszeitenwechsel an.

Der Teich in der Mitte ist wie das Kanji-Zeichen für ‘Herz’ ("Kokoro") angeordnet.

Die geringe Vegetation erhöht die dramatische Wirkung der hervorstehenden Felsen.

Eine Möglichkeit, über die eigene Beziehung zur Natur und Existenz nachzudenken.

Obwohl es noch nicht sichtbar ist, kann ich es kaum erwarten, den berühmten Landschaftsgarten des Tempels zu sehen, der vor etwa 500 Jahren von Sesshu, einem der größten Maler Japans, entworfen wurde.

Der Tempel wurde 1863 am Ende der Edo-Zeit an seinen heutigen Standort gebracht. Gefangen in einem Feuer, brannte der Tempel später zu Boden, wurde aber 1931 wieder aufgebaut und erstrahlt seitdem in seinem alten Glanz. Obwohl er nicht groß ist, entschädigt er für seine kleine Größe mit vielen Details. Allein der exzellente Zen-Steingarten macht den Besuch in diesem weniger besuchten Tempel lohnenswert.

Trotz aller Vorzüge des Tempels, habe ich ein anderes Ziel vor Augen – ich wollte Sesshus Schöpfung bewundern.

Als ich aus der großen Haupthalle in den Garten hinaustrete, bemerke ich als erstes die Steine, die vor dem Zierteich und dem umgebenden grünen Laub angeordnet sind.

Ich bewunderte die Szenerie für einige Zeit, bevor ich begriff, dass ich noch nicht in Sesshus Garten war. Deswegen ging ich schnurstracks zum Eingang. Während ich den traditionellen Steingarten genossen habe, ging der Wandergarten hinter dem Hauptgebäude über meine Erwartungen hinaus.

Ich stellte mir vor, wie der Anblick vor über 150 Jahren gewesen sein müsste, bevor der Tempel an seinen heutigen Standort gebracht wurde.

Als dieser Garten vor 500 Jahren angelegt wurde, war die Stadt Yamaguchi das blühende Zentrum einer Region, die aufgrund ihrer Lage als westliches Tor zu Honshu, Japans größter Insel, einen enormen Anstieg an Wohlstand und Handel erlebte. Die Stadt Yamaguchi war Kyoto nachempfunden und war zu dieser Zeit ein noch größeres und blühenderes Zentrum als heute. Während dieser opulenten Zeiten bat der herrschende Feudalherr den berühmtesten Künstler der Region, einen Garten zu entwerfen, auf den ich jetzt schauen darf.

Sesshu studierte drei Jahre in China, bevor er in seine Heimat zurückkehrte, wo er ein berühmter Künstler wurde. Heute gilt er noch immer als ein großer Landschaftsmaler, dessen Gemälde Szenen seiner Fantasie vermischt mit Elementen der realen Welt sind.

Obwohl Sesshu nicht so bekannt für seine Gartengestaltung war, hatte er einen guten Ruf dafür, die suggestiven Pinselstriche in physische Formen zu verwandeln. Seine Kreation bei Joei-ji ist keine Ausnahme. Es ist in seiner ganzen Pracht im Zen- Stil und entzieht alles, was unnötig ist, als ob es eine der berühmten Kalligrafien von Sesshu mit Steinen, spärlicher Vegetation und Wasser sei.

Das Herzstück des Gartens ist ein Teich, der wie das Kanji-Zeichen für ‚Herz‘ geformt ist. Es dauerte etwa 20 Minuten, um den Wanderweg zu bestreiten, der dieses charakteristische Wasserspiel umgibt. Immer wieder musste ich kurz anhalten, denn jede neue Kurve sorgte für völlig andere Perspektiven auf den Garten. Es bleibt einem nichts anderes übrig, als den erhöhten ästhetischen Sinn zu bewundern, der in die Schaffung dieser schönen Szene einfloss.

Durch den Übergang starker Herbstfarben mit weichen Grüntönen kann man sich fast vorstellen, in eine der imaginären Landschaften des Künstlers gemalt zu werden. „Ah ja“, denke ich, „das ist die Art von Landschaft, die Sesshu dazu gebracht hat, solch überzeugende Bilder zu schaffen.“

Obwohl ich länger in dieser entspannenden Szene bleiben wollte, konnte ich es kaum erwarten, eines seiner Gemälde vor Ort zu betrachten, also entschied ich mich, das nahegelegene Yamaguchi Art Museum zu besuchen, um ein kürzlich wiederentdecktes Werk zu sehen. Das Stück wurde 2017 von der Präfekturregierung von Yamaguchi zu einem Originalwerk von Sesshu erklärt – dessen Pinselführung und atmosphärische Bildsprache haben nicht enttäuscht. Die Arbeit zeigte eine kleine Bergszene aus Felsen, Bäumen und einem Izakaya am Wasser. Sesshus Arbeit ist kompliziert und zart verführerisch.

Nicht lange vorher dachte ich über den Garten nach und was Sesshu selbst darüber gedacht haben muss. Wenn man nun dieses filigrane Kunstwerk betrachtet, werden die Verbindungen zwischen beiden Kunstwerken klar. Als ich vor seiner Serie von Gemälden und Edo-Kopien verweilte, wollte ich mehr wissen – um noch feinere Details in den winzigen Landschaften zu entdecken.

Ich verlasse den verdunkelten Raum und befinde mich wieder in der Realität, mir fest vornehmend, mehr über die Arbeit dieses fantastischen Künstlers herauszufinden.

Fotos & Text von Julian Littler

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Yamaguchi

Yamaguchi ist von Meer, Bergen und Flüssen umgeben und erfreut sich eines milden Klimas, welches das ganze Jahr über angenehm ist. In Hinsicht auf Naturschönheiten hat die Präfektur mit einer Küstenlinie von zirka 1.500 Kilometern viel zu bieten. Eine der drei berühmtesten Brücken in Japan, die Kintai-Kyo, und andere Sehenswürdigkeiten sind lohnende Ziele, und Fugu (Kugelfisch) ist ein delikates Wintergericht.